Kinästhetik - Bewegungsabläufe optimieren

Mit Kinästhetik Bewegungsabläufe optimieren

Was ist Kinästhetik?

Kinästhetik ist die Wissenschaft von der Erfahrung und Wahrnehmung der eigenen Bewegung. Von ihr können Patienten und Pflegende gleichermaßen profitieren. Sie als pflegender Angehöriger lernen – z.B. in speziellen Kursen – wie Sie mit Kinästhetik Bewegungsabläufe optimieren können. Dabei erfahren Sie, wie Sie Ihre eigenen Bewegungen möglichst kräfteschonend und physiologisch einsetzen und beugen damit auch körperlichen Beschwerden wie Verspannungen oder Rückenschmerzen vor. Andererseits lernen Sie aber auch, die Bewegungs-Ressourcen Ihres pflegebedürftigen Angehörigen zu erkennen. So können Sie ihn anleiten, seinerseits seine Kräfte zu erspüren und gezielt einzusetzen.

Richtig eingesetzt hilft die Kinästhetik Pflegenden und Patienten dabei, Bewegungen wieder angst- und stressfrei durchführen zu können. Dadurch bleibt auch eine größtmögliche Selbstständigkeit des Patienten erhalten. Nicht zuletzt wird auch die Beziehung zwischen Ihnen und dem Patienten gefördert, denn um mit der Kinästhetik Bewegungsabläufe optimieren zu können sind auch Nähe und Berührungen unabdinglich.

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Warum mit Kinästhetik Bewegungsabläufe optimieren?

Werden von Pflegenden und Angehörigen konsequent die Konzepte der Kinästhetik umgesetzt, können dadurch kurz- und & langfristig folgende Ziele erreicht werden:

  • Angst- und stressfreies Bewegen und Aktivieren des Patienten.
  • Gemeinsame Durchführung der Bewegungen durch Patient und Pflegenden.
  • Erkennen und Einsetzen der Ressourcen des Patienten.
  • Bewegungsabläufe physiologisch und kräfteschonend gestalten.
  • Gesundheit des Patienten fördern, sodass er ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen kann.
  • Gesundheit der Pflegenden durch die Vermeidung von Heben und Tragen schützen.

Konzepte der Kinästhetik

Die Kinästhetik beruht auf sechs Konzepten, die die menschliche Bewegung und Interaktion beschreiben sollen:
Durch die Kinästhetik soll die Wechselbeziehung zwischen dem Pflegenden und dem Patienten bewusst gestaltet werden. Dabei sollen individuelle Ressourcen des Patienten erkannt und bei der Bewegungsanleitung gezielt eingesetzt werden. Das Konzept der Interaktion setzt sich aus den Bereichen “Sinne”, “Bewegungselemente” und “Interaktionsformen” zusammen.

Sinne

Als Pflegender setzen Sie Sinneswahrnehmungen des Patienten dazu ein, diesen zu einer Bewegung zu animieren. So berühren Sie den Patienten beispielsweise, um ihm das Aufstehen zu erleichtern (Tastsinn), führen ihm eine Bewegung vor (Sehsinn) oder erklären ihm einen Bewegungsablauf (Gehör). Eine ganz besondere Rolle nimmt der sogenannte kinästhetische Sinn ein. Mit diesem kann der Patient die räumlichen, zeitlichen und anstrengungsbezogenen Aspekte seiner Bewegung wahrnehmen und die Eigenbewegung seiner Muskeln und Gelenke spüren.

Bewegungselemente:

Eine Interaktion besteht aus drei Bewegungselementen: Zeit, Raum und Kraftaufwand. Diese beeinflussen sich gegenseitig.

Zeit:
  • in welchem Tempo (schnell oder langsam) wird eine Bewegung ausgeführt?
  • wie lange dauert das Ausführen der Bewegung?
  • erfolgen die Bewegungen gleichzeitig oder nacheinander (Abfolge)?
Raum:
  • wo findet die Bewegung statt?
  • wie ist das Ausmaß der Bewegung im Raum (eng, weit, klein, groß, hoch, tief)?
  • in welche Richtung geht die Bewegung (z. B. vorwärts, rückwärts, aufwärts, abwärts, nach rechts/links, Drehbewegung nach innen/außen)?
  • wie weit geht die Bewegung (Entfernung)?
  • welche Eigenschaften hat die Umgebung (z. B. holprig, glatt, rutschig)?
Kraftaufwand:
  • welche Kraft wird benötigt (z.B. Druck oder Zug)? Im Idealfall bringt der Patient diese Kraft selbst auf. Ziel ist es, diese Kraft effektiv und kräfteschonend einzusetzen.
  • wie viel oder wie wenige Kraft muss eingesetzt werden, um die Bewegung auszuführen?
  • an welchem Ort und in welche Richtung wird die Kraft aufgewendet?

Interaktionsformen:

Es gibt drei Interaktionsformen: Die einseitige, die schrittweise und die gleichzeitig-gemeinsame Interaktion. Welche Form angewendet wird, hängt von den individuellen Fähigkeiten des Patienten ab.

Einseitige Interaktion:
Sie wird eingesetzt, wenn

  • der Patient relativ selbstständig ist und
  • eine Bewegung nach einmaliger Anweisung eigenständig ausführen kann.

Schrittweise Interaktion:
Hierbei benötigt der Patient

  • viele kleinere Handlungsanweisungen und
  • führt die Bewegung entsprechend in vielen kleinen Schritten durch

Gleichzeitig-gemeinsame Interaktion:
Bei dieser Interaktionsform spielt die Berührung zwischen Patient und Pflegeperson eine entscheidende Rolle. Die Pflegeperson

  • unterstützt den Patienten durch eine Berührung bei der Bewegung (z.B. Druck aufs Knie als Hilfe beim Aufstehen) und
  • bekommt dabei gleichzeitig Informationen zur gewünschten Bewegung (sie fühlt z.B. die Muskelspannung des Patienten und merkt, wie viel Kraft der Patient für die Bewegung aufbringen muss)

Die Funktionale Anatomie beschäftigt sich mit den anatomischen Grundlagen von Bewegung. Dies sind zum einen Knochen und Muskeln, zum anderen Massen und Zwischenräume.

Knochen & Muskeln:

Knochen und Muskeln bilden eine Funktionseinheit. Dabei sind Knochen einerseits das Gerüst, das das Körpergewicht trägt. Darüber hinaus haben sie aber auch die Aufgabe, die Muskeln bei der Ausführung einer Bewegung zu unterstützen. Die Muskeln wiederum bewegen die Knochen und bringen sie in eine bestimmte Person zueinander.

Massen & Zwischenräume:

Mit “Massen” sind in der Kinästhetik feste, stabile Körperregionen gemeint, an denen viele knöcherne Strukturen zu finden sind. Die Massen sind im Einzelnen: Kopf, Brustkorb, Becken, Arme und Beine. “Zwischenräume” sind instabile, bewegliche Körperregionen mit vielen muskulären Strukturen. Aufgabe der Zwischenräume ist es, die Massen untereinander zu verbinden und ausbalancierte Bewegungen zu ermöglichen. Die Zwischenräume des menschlichen Körpers sind: Hals, Taille, Schultergelenke und Hüftgelenke.

In der Pflege wird die Funktionale Anatomie beispielsweise beim Bewegen des Patienten umgesetzt. Der Grundsatz dabei lautet “Masse für Masse”. Das heißt, der Körper wird nicht als Ganzes verlagert, sondern nur einzelne Körperteile. Da die Kinästhetik zudem davon ausgeht, dass der Kontakt des Pflegenden mit den Massen des Patienten Bewegung fördert, Kontakt mit den Zwischenräumen dagegen Bewegung hemmt, bedeutet das schrittweise Verlagern eben auch: Masse für Masse.

Bewegungsqualitäten

Menschliche Bewegungsabläufe bestehen aus einer Kombination von zwei Bewegungsqualitäten, den Haltungsbewegungen und den Transportbewegungen.

Haltungsbewegungen:

Das Gewicht wird von einer Masse zur nächsten übertragen und in Richtung oben/unten kontrolliert. Die Bewegung ist stabil, es werden alle Massen bewegt. Haltungsbewegungen gehen immer nur in eine Richtung. Sie ermöglichen die Aufrechterhaltung des Körpers und sorgen für Stabilität und Gleichgewicht. Ein Beispiel sind Beuge- und Streckbewegungen.

Transportbewegungen:

Die Beziehung zweier benachbarter Massen wird verändert. Dabei verläuft die Gewichtsübertragung in viele Richtungen. Die Bewegung ist relativ instabil, es wird nur eine Masse bewegt. Transportbewegungen bewirken Veränderungen der einzelnen Körperteile. Ein Beispiel ist das Drehen des Unterarms.

Bewegungsmuster

Aus der Kombination von Haltungs- und Transportbewegungen ergeben sich Bewegungsmuster. Hierbei unterscheidet man zwischen paralleler und spiraliger Bewegung.

Parallelbewegungen:

Parallelbewegungen sind Bewegungen, die über nur eine Bewegungsachse ausgeführt werden – also Beuge- und Streckbewegungen. Beide Körperhälften des Patienten – vorne und hinten – bewegen sich gleichzeitig in die gleiche Richtung. Ein Beispiel: Setzen Sie sich auf einen Stuhl und stehen Sie wieder auf, indem Sie den Oberkörper gerade nach vorne beugen und dann beide Knie durchstrecken.

Spiralbewegungen:

Im Gegensatz zu Parallelbewegungen erfolgen Spiralbewegungen über zwei Bewegungsachsen, es sind also Drehbewegungen. Die beiden Körperhälften des Patienten bewegen sich unterschiedlich zueinander. Aufstehen von einem Stuhl beispielsweise funktioniert mit Spiralbewegungen folgendermaßen: Setzen Sie sich auf den Stuhl und ziehen Sie beide Füße Richtung Stuhl. Stellen Sie nun den rechten Fuß vor den linken, stützen Sie sich mit der linken Hand auf der Sitzfläche des Stuhls ab und stehen Sie mit einer Drehbewegung auf. Sie werden feststellen, dass diese Art des Aufstehens mit weniger Kraftaufwand verbunden ist, als die Variante mit Parallelbewegungen. Damit eignen sich Spiralbewegungen vor allem für geschwächte Patienten, und auch die Pflegeperson muss bei Spiralbewegungen deutlich weniger Kraft aufwenden.

Dieses Konzept widmet sich der Anstrengung des Pflegenden. Diese Anstrengung wird allerdings nicht als negativer Faktor betrachtet, sondern als ein Mittel der Interaktion mit dem Patienten. Die Anstrengung der Pflegekraft soll dabei so dosiert bzw. reduziert werden, dass es dem Patienten möglich ist, eigene Kräfte und Ressourcen einzusetzen.
Als Anstrengungsformen werden Zug (das Gewicht der Beteiligten bewegt sich vom Kontaktpunkt weg) und Druck (das Gewicht der Beteiligten bewegt sich auf den Kontaktpunkt zu) angewendet. Druck wird am besten auf die Massen Brustkorb und Becken angewendet Zug auf die Arme. 

Dieses kinästhetische Konzept unterscheidet zwischen der einfachen Funktion (auch Grundposition genannt) und der komplexen Funktion (Fortbewegung und Bewegung am Ort). Die 7 Grundpositionen sind:

  • Rückenlage
  • Ellenbogen-Bauch-Lage
  • Sitzen
  • Vierfüßlerstand
  • Einbein-Kniestand
  • Einbeinstand
  • Zweibeinstand

Schon Kleinkinder lernen mit diesen Grundpositionen Schritt für Schritt das Aufstehen aus dem Liegen. In der Krankenpflege werden die Grundpositionen zum Beispiel angewendet, um mit Schlaganfallpatienten das Aufstehen aus einer liegenden Position zu üben. 
Komplexe Funktionen sind etwa das Gehen (Fortbewegung) oder Essen (Bewegung am Ort). Bei der Kinästhetik in der Pflege werden solche komplexen Funktionen nachvollzogen und dann auf andere Bewegungen übertragen, die der Patient wieder bzw. neu erlernen soll. So wird beispielsweise das Prinzip des Gehens (Verlagerung des Körpergewichts auf ein Bein, Vorziehen des entlasteten Beins, Zurückverlagerung des Körpergewichts) auf die Bewegung des Patienten im Bett übertragen. Um an das obere Ende des Bettes zu gelangen, wird der Patient angeleitet, sein Gewicht zuerst (z. B. durch Seitwärtsdrehung) auf die eine Seite zu verlagern, die entlastete Körperseite nach oben zu bewegen und anschließend das Gewicht auf die andere Seite zu verlagern (sog. Gehen im Bett).

Um mit Hilfe der Kinästhetik Bewegungsabläufe optimieren zu können, ist auch der Blick auf die Umgebung wichtig. Hier setzt das 6. Konzept der Kinästhetik an. Durch Veränderungen in der Umgebung sollen Bewegungen für den Patienten einfacher und sicherer gemacht werden. So wird gewährleistet, dass er seine Ressourcen voll ausschöpfen kann. Möglichkeiten zur Umgebungsveränderung sind z.B.:

  • Ein Hocker in der Dusche, um das eigenständige Waschen zu unterstützen.
  • Ein Stuhl am Bett, der das Aufstehen erleichtert.
  • Ein speziell geformter Becher, der Patienten mit Greifschwierigkeiten das Trinken erleichtert.
Pflegepraxis

Kinästhetische Mobilisation